Wie mir der Alkohol zuwider wurde

Ich war 16 als ich eines Morgens auf dem Flur eines Krankenhauses aufwachte. Ich erinnerte mich an gar nichts mehr – nur ein kleiner undefinierbarer Fetzen ließ darauf schließen, dass ich mit einem Rettungssanitäter gesprochen hatte. Man erklärte mir, ich sei mit einer Alkoholvergiftung eingeliefert worden. Den restlichen Vormittag musste ich auf meine behandelnde Psychologin warten. Nach einem kurzen Gespräch mit ihr durfte ich gehen. Zuhause eröffnete mir mein Vater, ich müsse in den Entzug, wenn sowas nochmal passiere.

Es war der Tag nach meinem allerersten Rausch. Ich hatte mich mit Freundinnen zum Volksfest verabredet und konsumierte nicht nur unglaublich schlechte Musik, sondern zudem gleich zwei Maß Bier und Radler. Ob das wirklich mit meinem Blackout zu tun hatte, der mich schlussendlich ins Krankenhaus brachte, weiß ich gar nicht mehr. Es hätten auch K.O.-Tropfen sein können, doch das sind nur Mutmaßungen.

 

Heute, mit 28, schaue ich mit einem unguten Gefühl zurück. Nicht nur die völlig sinnfreie Drohung meines Vaters, sondern der gesamte Umgang meines Umfelds mit der Situation war mehr schlecht als Recht. Auf der einen Seite hatte ich das Gefühl, dafür verurteilt zu werden, auf der anderen Seite schien es aber niemanden wirklich zu stören und was passiert war, spielte auch schnell keine Rolle mehr für mich. Eine Woche später war ich wieder auf diesem Volksfest. Ich war zwar betrunken, aber dieses Mal blieb der Sanker aus.

Das war mein Start in den Alkohol. Es folgte eine ganz normale „Trinkkarriere“, wie sie Dorfkinder wohl haben. Wie ich mich zwischen Apfelkorn und „Hallo Klaus“ jemals wohlfühlen konnte, ist mir bis heute ein Rätsel. Wie ich wesentlich seltener mit Kater aufgewacht bin, als ich übertrieben habe, ebenfalls. Diese Karriere endete allerdings, als ich in die Oberstufe wechselte. Ich hatte einen neuen Freundeskreis und dort waren Alkoholexzesse eher unüblich und es hätte alles glimpflich ausgehen können, wenn da nicht meine problematische Beziehung gewesen wäre, deren Ende ich unter anderem mit „auf die Kacke hauen“ kompensierte (mein Exfreund mochte es nicht, wenn ich trank). In dieser Zeit spielte ich übrigens zum allerersten Mal mit dem Gedanken den Alkohol komplett sein zu lassen, denn ich hatte das große Talent, mich auf besonders merkwürdige Art und Weise zu blamieren, wenn ich betrunken war. Ich verwarf ihn allerdings wieder. Ich sah mein Trinken nicht unbedingt als Problem, war es doch sehr unregelmäßig.

Das wirklich problematische Trinken fing aber mit meinem Umzug in eine neue Stadt und den Wechsel an die Uni an. Wer studiert hat weiß, dass es an Semesterstart gar nicht so einfach ist, dem Alkohol komplett auszuweichen: Kneipentouren, Bier-Bachelors, Studi-Parties – es war für mich auf einmal ganz normal auch unter der Woche in eine Bar zu gehen und das tat ich auch relativ oft. Irgendwann in dieser Zeit bemerkte ich, dass es immer schwieriger für mich wurde aufzuhören, wenn ich erst angefangen hatte zu trinken. Wildfremde Menschen kennen seitdem meine Lebensgeschichte und ich merkte wie Kommiliton:innen und sogar Freund:innen anfingen mich zu belächeln – als sei ich auch nüchtern dieses betrunkene Ich. Das war aber nicht das Schlimmste daran und ich bin bis heute der Meinung, dass dieser Umgang seitens meines Umfelds mit meinem „Problemchen“ einfach nicht der richtige war. Das Schlimmste war, dass ich ganze Abende, die als schön empfunden wurden nicht wirklich mitbekam, Musik, die ich betrunken hörte, bekam einen sehr merkwürdigen Filter, als wäre alles auf einmal klebrig, selbst die Gedanken, die ich betrunken hatte, egal wie normal sie waren, fühlten sich wie vergiftet an. Jedes Mal sagte ich mir: „Heute trinke ich nur eins! Ganz gemütlich.“ Ich schaffte es nicht und es fühlte sich an, als wäre ich die Einzige. Überall sah ich auf einmal Menschen, die ihr Trinkverhalten im Griff hatten und für die ein Bier im Park nicht zu einem merkwürdigen kleinen Tagessuff wurde; oder die, die nach einem Partysamstag noch einen richtigen Sonntag haben konnten. Ich probierte es immer wieder und scheiterte so oft. Ich fühlte mich unfähig und minderwertig. Ich war schon wieder die, mit der was nicht stimmte. Und ich schämte mich sehr. Nicht unbedingt für meinen Konsum, aber dass ich so komisch wurde – als wäre ich der peinlichste betrunkene Mensch der Welt. Ich dachte selbst gröhlende Männergruppen wären weniger schlimm als ich.

Da mein Plan moderat zu trinken nicht wirklich klappte, fing ich an zu akzeptieren, dass ich mit dem Alkohol nicht umgehen konnte. Dann war ich halt die, die immer zu tief ins Glas schaute. Rückblickend war das schon ein Schritt in die richtige Richtung: Akzeptanz. Ich habe dann allerdings in „Safe Spaces“ getrunken, also da, wo ich sicher sein konnte, dass mich mein exzessives Oversharing-Verhalten nicht in Teufels Küche brachte – und das bedeutete auch: Ich trank immer mal wieder „allein“, was wahrscheinlich auch ein Resultat der Corona-Zeit war. So saß mein damaliger Freund hin und wieder neben seiner betrunkenen Freundin. Er nahm es mir nicht übel, da er wusste, dass ich damit zu kämpfen hatte, aber wenn ich darüber nachdenke, wie oft wir einfach einen ruhigen Abend hätten haben können, anstatt ein durchpeitschendes betrunkenes Ich durchzukriegen, tut mir das heute noch weh. Der größte Schock für mich war aber kurz vor Weihnachten 2020 – eines Abends trank ich fast drei Flaschen Glühwein leer – komplett allein.

Trotz allem: Ich war wohl die Einzige, die das alles als so belastend wahrnahm. Regelmäßig sagten mir Menschen, dass es sich gebessert hatte und ich meinen „Ausrutschern“ nicht immer so viel Bedeutung beimessen sollte. Natürlich sagt man sowas zu jemanden, wenn man in einer Gesellschaft aufwächst, wo das tägliche Bier als ganz normal angesehen wird – vor allem wenn diese Person nur alle ein bis zwei Wochen trinkt.

Natürlich hatten sie irgendwo recht, es brachte nichts mich selbst so fertig zu machen – nur fühlte ich mich so hilflos und ich war es auch. Als ich das Problem bei meiner Psychiaterin ansprach und auch äußerte, dass ich gerne kontrollierter trinken wollte, meinte sie sinngemäß: „Haben Sie doch immer so ein Bier im Kühlschrank.“

Für Fachpersonen war ich eben keine Suchtpatientin. Ich trank nicht oft, ich trank nicht mal wirklich regelmäßig. Ganz oder gar nicht war eben die Devise. Ich begann selbst zu recherchieren und fragte mich, ob man mich schon als „Quartalstrinkerin“ bezeichnen konnte. Ich kaufte mir ein Handbuch, um „kontrolliertes Trinken“ zu lernen. Immer wieder versuchte ich dem Alkohol eine Rolle zu geben, die er in meinem Leben gar nicht (mehr) einnehmen konnte. Gesund war das definitiv nicht, aber es war anscheinend ein Prozess, der nötig war, um zu verstehen.

Als ich dann irgendwann anfing, mich mit anderen ADHS Menschen online auszutauschen, traf ich auf einmal auf Leute, denen es ganz genauso ging – und das war der allerwichtigste Schritt, denn meine Scham löste sich auf einmal auf – langsam, aber sicher. Relativ zeitgleich kamen Menschen in mein Leben, für die in eine Bar gehen nur eine Ausnahme-Freizeitbeschäftigung darstellte. Und ich merkte, wie wenig es eigentlich zu mir passte, hauptsächlich irgendwo herumzusitzen und nebenbei zu trinken. Es war viel, es war anstrengend und es war langweilig. Kein Wunder, dass es immer wieder aus dem Ruder lief. Alkohol war der Stoff, der mich in diesen Situationen beruhigte, meine Nervosität (die ich nicht als solche wahrnahm) herunterschraubte und mich mit dem wohligen Gefühl von Dopamin versorgte. Außerdem traute ich mich so an die Gesprächsthemen heran, die wirklich interessant für mich waren, egal ob sie jetzt wirklich passten, oder nicht.

Was genau ich im Alkohol wirklich suchte, weiß ich allerdings bis heute nicht. Irgendwann machte es mir nicht mal mehr Spaß. Die paar Stunden, die mir ein wenig mehr „Spannung“ in mein Leben brachten, waren es einfach nicht wert – die Tage danach bestanden aus Scham und Depression. Tote Tage. Selbst das Betrunken sein fühlte sich irgendwann nur noch nach einer ungesunden Illusion an. Trotzdem habe ich immer wieder getrunken, bis es wirklich nicht mehr ging. Manchmal holte ich mir auf dem Heimweg nach einer Party sogar noch ein oder zwei „Wegbier“ und es kam selten vor, dass davon etwas übrigblieb. Sobald ich dem Alkohol meinen kleinen Finger gab, nahm er sich mit seinen widerlichen langen Fingern meine ganze Hand und hatte mich fest im Griff.

Ich war überzeugt davon, dass das mein ganzes Leben so bleiben sollte, dass ich einfach weiter die Strategie fahren musste, die Finger soweit es ging davon zu lassen, aber mich nicht zu verurteilen, wenn es doch mal schief ging. Ein Abstinenz-Gedanke, ohne komplette Abstinenz. Aber genau dieser war meine Rettung. Dieser Gedanke und das Wissen darum, dass ich absolut nicht alleine war und mein Umgang mit Alkohol nicht damit begründet war, dass ich einfach nur nicht stark genug war.

Als ich im Sommer 2022 – ein sehr depressiver Sommer – aus einem Gefühl von „ist doch jetzt eh egal“ im Supermarkt ein paar Bier mitnahm, blieben schlussendlich alle stehen bis auf Eines; auf das zweite hatte ich gar keine Lust mehr. Ein paar Monate später hatte ich das gleiche Erlebnis. Ich konnte – trotz Abstinenz-App – auf einmal nicht mehr sagen, wann ich das letzte Mal getrunken hatte, denn wenn ich dann doch mal etwas konsumierte, war es so wenig, dass es einfach völlig irrelevant war. Als mir das langsam bewusst wurde, hätte mir ein großer Stein vom Herzen fallen können, aber ich traute dem Ganzen nicht besonders. Jetzt haben wir Mai 2023 – ich war nicht einmal betrunken dieses Jahr, nur an einem Tag in diesem Jahr hatte ich wirklich das Bedürfnis ein Bier zu trinken. Ich weiß nicht, wie ich das genau gemacht habe, aber aus einem „Ich würde gerne ganz gemütlich ein Bier trinken können.“ wurde „Was will ich eigentlich mit Alkohol, ich kann auch Limonade haben.“ Man kennt mich nicht mehr als die, die schon viel zu früh betrunken ist, sondern als die, die immer ablehnt, ich kenne mittlerweile Leute, die gar nicht wissen, wie ich bin, wenn ich getrunken habe. Langsam glaube ich, ich kann endgültig und voller Überzeugung sagen: Der Alkohol ist mir zuwider. Ich habe ihn nicht zu tausend Prozent verbannt, aber die Sorgen von vor zwei Jahren bleiben auch dort; ich muss nicht mal mehr Angst haben irgendwo hinzugehen, wo Alkohol getrunken wird – es ist mir wirklich so egal geworden. Auf gut Deutsch gesagt: Mein Arsch ist gerettet. Ich wüsste nicht, wo es hingeführt hätte, wäre es schlimmer geworden, ich wüsste nicht, was gewesen wäre, wenn ich ein anderes Umfeld gehabt hätte, oder mein Leben in Bahnen gerutscht wäre, in denen Katertage nicht das schlimmste Übel gewesen wären. Auch wenn es für Viele etwas übertrieben klingt: Wenn ich dem Alkohol nicht so entwischt wäre, hätte er mein Leben durch und durch zerstört.

 

Und obwohl ich diesen Prozess ohne großartige therapeutische Hilfe (ich wurde ja ganz schön sitzen gelassen) durchlaufen habe, würde es mir im Traum nicht einfallen auch nur eine einzige Person von oben herab zu behandeln, weil sie mit Alkohol nicht umgehen kann. Ich habe ja schon vor zwei Jahren geschrieben, dass unser gesellschaftliches Verhältnis zu Alkohol höchst toxisch und paradox ist und ich möchte nicht dieselbe Arroganz besitzen, die mir damals entgegen gebracht wurde, während sich geweigert wird, die alkoholische Omnipräsenz auch nur ansatzweise so in Frage zu stellen, wie es sich gehören würde. Wenn ich sehe, ein Mensch schaut regelmäßig zu tief ins Glas, dann möchte ich ihm am Liebsten sagen: Du kannst mit mir drüber sprechen, wenn du das Bedürfnis hast, aber du bist mir nicht schuldig mit dieser Droge so umzugehen, wie ich mir das vorstelle – dafür ist sie viel zu stark und außerdem bist du ein Mensch und kein Problem.

Ich bin überzeugt davon, dass das besser hilft, als dieser strenge, angewiderte Blick mit dem Aperol Spritz in der Hand.

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Eine Aneinanderreihung problematischer Narrative