Unter Männern - Sexismus und ADHS

„Das machen nur Jungs, solche Streiche!“

Verstohlen sahen wir uns an. Wir hätten wissen können wie es endet und trotzdem war die Situation unendlich bedrohlich für mich. Ich meine, was soll eine 8 oder 9-jährige denn fühlen, wenn der Großvater der Nachbarinnen ihr eine Standpauke hält?

Ich weiß nicht mehr welchen Streich wir genau gespielt haben, aber es war bestimmt nicht der beste Auswuchs, den mein kindliches Gehirn hervor brachte und meine Freundin konnte nicht wirklich viel dafür, ich hatte sie überredet.

Gerne würde ich jetzt sagen, dass ich dieser Aussage etwas Selbstbewusstes und Freches entgegen gesetzt habe, aber ich lebte in einem kleinen Dorf, in dem es selbstverständlich war solche Dinge zu sagen. Und ich fand die Aussage normal. Ich fand sie sehr lange normal, sah sie sogar als eine Art Kompliment. „Mädchen sind vernünftiger und machen keinen Quatsch!“ Das erschien mir logisch, denn was ‚die Jungs‘ machten fand ich natürlich immer ziemlich bescheuert. Ich war der Überzeugung, dass ich viel schlauer, eigenständiger und erwachsener war. Bis tief in meine Zwanziger hinein. Dass dies aber kein Kompliment war und auch keines ist, wurde mir erst in den letzten Jahren wirklich richtig bewusst.

Tatsächlich ist das die allererste sexistische Erfahrung, an die ich mich bewusst erinnere. Es ist die erste Erfahrung, in der bewusst ein Unterschied gemacht wurde: „Jungs machen sowas, Mädchen aber nicht!“ Für mich ist das eher ungewöhnlich, denn so direkt habe ich es kaum mehr erlebt. Allerdings war der unterbewusst gemachte Unterschied ständig da und ich habe ihn sehr lange nicht bemerkt. Um ehrlich zu sein: Ich habe dafür 27 Jahre gebraucht. 27 Jahre, um mir bewusst zu werden, dass ich anders gesehen werde. Nicht wegen meiner Neurodivergenz, nein, sie spielt nicht die Hauptrolle, sondern wegen meines Geschlechts. Fast jede Wertung, die mir entgegengebracht wurde, galt zuallererst meinem Mädchen-, meinem Frau-sein. Erst dann kam die Neurodivergenz.

 

Emotional - aber wütend

Ich bin emotional dysreguliert. Vielleicht habt ihr jetzt das Bild im Kopf, dass ich sehr viel weine und oft traurig bin – und hilfsbedürftig. Was sich aber immer schon mehr gezeigt hat, war meine Wut, mein Frust: meine Dysregulation spielt sich meist innerlich ab, aber wenn sie ausbricht, ist da ein großer Batzen Aggression. Und Aggression passt nicht zum Mädchen-sein, passt nicht zum Frau-sein. Wenn Frauen aggressiv sind, dann stört das, dann ist das nicht berechtigt. Dann ist das hässlich. Genauso wie frustriert sein. Und auch meine Impulsivität führt dazu, dass ich nicht unbedingt die Traumfrau der Achims und Andis da draußen bin. Ich bin zu anstrengend und „psycho“. Psycho wurde ich übrigens oft genannt in Situationen, in denen ich reagiert habe – und zwar auf unfaires oder unangebrachtes Verhalten mir gegenüber. Situationen, in denen ich auf so unfaire Weise in die Ecke gedrängt wurde, wo mir Totschlagargumente entgegen geschleudert wurden, die gar keine Argumente waren, dass ich – wie ich es so gerne sage – nicht mehr wusste wo oben und unten ist. Und in Retrospektive sehen diese nüchtern betrachtet ganz anders aus, als mir vorgehalten wurde. Oft wurde meine emotionale Reaktion genutzt, um meinen Punkt invalide zu machen, egal wie viel ich vorher „ganz normal“ dazu geäußert hatte, egal wie sehr der Sinn auf meiner Seite stand – sobald meine Reißleine riss war ich chancenlos. Egal welchem Geschlecht gegenüber. Das wurde übrigens sogar ehrlich zugegeben: „Deine Reaktion hat es kaputt gemacht.“, habe ich nicht nur von meinem narzisstischen Exfreund gehört.

Ich war übrigens sehr lange der Meinung, dass das alles nach der Pubertät aufhören würde. Ihr wisst ja, was man als Teenager-Mädchen so hört; man ist irgendwann selbst überzeugt davon, dass die eigenen Gefühle und Reaktionen nicht wirklich etwas zählen, weil sie ja so hormontrunken sind. „Pubertier“ sagen Eltern dann oft und fühlen sich witzig dabei. Aber eigentlich ist es nicht witzig, denn das mit dem „Tier“ ist ernster gemeint, als sie glauben. Man lebt ein bisschen wie ein Tier: jegliche eigene Regung wird unterbunden, nicht ernst genommen – man muss sich anpassen. Und man geht irgendwann davon aus, dass das eigene Innenleben sowieso nur ein Resultat des Heranwachsens ist, das sich irgendwann ‚wieder einkriegt‘. Bei mir ging das so weit, dass ich dachte, das ist halt eben so – meine Gefühle drehen durch, das liegt am Erwachsen werden, es ist normal, dass ich nicht ernst genommen werde, ich kann das auch gar nicht verlangen, denn meine Welt ist pubertär, klein und unwichtig. Ganz überzeugt davon war ich übrigens nicht, aber irgendwo hatte ich immer das Gefühl, dass das eine Tatsache ist, mit der ich klarkommen muss.

Und so war ich der Meinung, dass ich ab meinen Zwanzigern zumindest mit einer gewissen Ernstnahme rechnen konnte. Das war sehr naiv von mir. Aber mir war eben nicht bewusst, welche Dinge Einfluss darauf hatten, wie Menschen mir begegnen.

Während ich diesen Text schreibe, überkommt mich übrigens das Bedürfnis mich zu rechtfertigen: Gerne würde ich jetzt ausführen, dass ich nicht ständig aggressiv bin, dass es nicht wirklich leicht ist, mich wütend zu machen, dass ich sehr geduldig sein kann und dass nicht jede Widrigkeit zu einem Nervenzusammenbruch meinerseits führt. Tatsächlich weil ich Angst habe, dass ich in eine Schublade gesteckt werde; zu oft habe ich erlebt, dass ich mich anderen anvertraut habe und mich am Ende in der Rolle der Schuldigen fühlte, die einfach etwas besonnener hätte reagieren können. Ich merke aufgrund dieser Erfahrungen auch, wie wichtig es für mich ist, Situationen ganz genau zu beschreiben und zu erklären, da ich sonst befürchte, alles wird wieder in das schön vorgepresste Schema gesteckt: Die nicht ernst zu nehmende junge Frau bekommt „den Arsch nicht gepudert“ und rastet deshalb vollkommen aus. Ich denke, ich bin nicht die Einzige, die dieses Schema direkt fühlen kann. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich genau das durch meine Dysregulation einfach viel öfter erlebt habe. Es gab übrigens auch oft unterschwellige Fingerzeige auf Freundinnen von mir, die angeblich zurückhaltender und ruhiger waren, also nicht immer unbedingt „ihren Senf dazu geben“ mussten. Die hatten aber ganz andere Probleme als ich und das „Glück“, dass sie nicht anders konnten, als sich anzupassen. Bei mir war es das genaue Gegenteil. Ich habe mir sehr oft vorgenommen, „endlich mal die Stille und Ruhige“ zu sein und alles lockerer zu nehmen. Das war aber nicht die Lösung, denn geklappt hat es nicht, es führte eher in einen fast täglichen ‚guilt trip‘, der mein Selbstbewusstsein weiter in die Tiefe drückte.  

Als ich meinen ADHS-Verdacht, beziehungsweise dann auch irgendwann endlich meine Diagnose hatte, war mir noch gar nicht bewusst, dass all diese Dinge damit zusammen hängen könnten. Ich war erst einmal froh, dass ich eine Erklärung für meinen verkorksten Lebensweg hatte und war erleichtert, dass ich weder unfähig, noch zu faul war. Je tiefer ich mich damit aber beschäftigt habe, desto mehr wurde mir klar: Mein ADHS ist noch so viel mehr als nur das. Und es hängt mehr damit zusammen, als ich mir jemals hätte vorstellen können. Mein impulsives Antworten in der Schule, dass ich die wildesten Themen besprechen konnte, meine Binge-Anfälle in der Pubertät, die Zeitblindheit, oder – wie es erst seit Kurzem bei mir durchsickert – dass ich anscheinend ganz anders kommuniziere als andere Menschen. Meine Neurodivergenz bekommt klarere Umrisse; ich begreife immer mehr und mehr, wie ich mich von neurotypischen Menschen unterscheide. Ich verstehe so Einiges mehr. Doch eine Frage, beziehungsweise eine Überzeugung in mir drin hat länger gebraucht, so klar zu werden: Ich bin das „andere Geschlecht“. Und das spielt eine Rolle. Eigentlich beeinflusst mein Geschlecht am Allermeisten wie ich wahrgenommen werde. Das heißt: Der Blick von Außen hat bei meinem ADHS, meiner Neurodivergenz ganz andere Standards, als der der den Männern gilt.

Um diese Schlussfolgerung besser zu verstehen, rollen wir doch einfach nochmal die üblichen ADHS-Symptome auf – vor allem die, die der Außenwelt am Meisten auffallen: Vergesslichkeit, Unpünktlichkeit, Unordentlich sein, Impulsivität. Das sind vor allem die Symptome, die in unserer Kindheit als problematisch deklariert werden, wegen denen wir auch auf „wunderschöne“ und unvergessliche Geschichten zurückblicken können. Zum Beispiel, wie wir von der Lehrerin vor allen Kindern bloß gestellt wurden, weil wir unsere Hausaufgaben vergessen hatten, oder die anderen Kinder, die irgendwann gemerkt haben, dass wir irgendwie verplant sind und man sich super über uns lustig machen kann. Ernsthaft: In der Grundschule lebte ich damit, dass meine Klassenkamerad:innen regelmäßig lautstark geschockt davon waren, was ich alles gemacht oder nicht gemacht habe. Und natürlich war das nicht nur bei mir der Fall, aber irgendwie war ich immer das einzige Mädchen, das „Probleme gemacht hat“ und so sah ich neben den ganzen ordentlichen, fleißigen und zurückhaltenden Lisas eben wie ein Problemkind aus. Ich erinnere mich daran, dass ich sehr oft von meinen Banknachbarinnen weggesetzt wurde oder auch diejenige war, die direkt am Platz vor der Lehrerin sitzen musste. Bei den Jungs schien es, als sei es ein ganz normales Unterfangen, bei mir war es eine Ausnahme, ein großes schlimmes Ding. Und so wurde es auch für mich selbst schlimmer, als es wahrscheinlich hätte sein müssen. Ganz ernsthaft? Ich hatte wirklich jahrelang das Gefühl, dass ich genauso schlimme Dinge mache, wie einer meiner Nachbarsjungs, der regelmäßig (auch unberechtigt) in die Mangel genommen wurde.

Und jetzt kommt der Clou: So tragisch waren die Dinge, die ich tat einfach nicht. Es war im Prinzip eigentlich alles ganz normal – vor allem für ein ADHS-Kind. Aber ich hatte einfach immer das Gefühl, dass jeder Schritt den ich tat, mir übel genommen werden konnte. Die Folgen bis heute halte ich für fatal. Und weil ich eben ein Mädchen war und ein bisschen schlau, gingen alle davon aus, dass sie mehr von mir erwarten können: mehr Ordnung, mehr Fleiß, mehr zurückstecken, weniger Ich sein. Denn wie schon gesagt, ich war ja das vernünftigere, das schlauere Geschlecht. (Und nur schlaue Jungs dürfen chaotisch sein, das macht sie doch zum Herrn Professor!) Dass gerade diese Erwartungen – egal wie wohlgemeint – keine gute Idee waren, hätte man sich aber eigentlich denken können. Egal ob ADHS oder nicht. Sie sind immer problematisch und tragen maßgeblich zur weiblichen Sozialisierung bei; kein Wunder also, dass das Imposter-Syndrom ein eher weibliches Problem ist (Gespräch über das Imposter-Syndrom - Lila Podcast).

 

There was no Teenage Dream, more a Teenage Nightmare

Diese Erwartungen schlugen aber schnell um, sobald ich in die Pubertät kam. Und wenn ich heute so darüber nachdenke, wie das eigentlich war „erwachsen zu werden“, bin ich einfach nur massiv verstört. Ich habe ja weiter oben schon erwähnt: als weiblich sozialisierter Teenager hast du einfach schlechte Karten. Alles was du machst und tust, wird vom Großteil der Gesellschaft irgendwo belächelt, für alle übertreibst du und falls du wütend wirst, müssen dir deine Eltern Einhalt gebieten. Generell hatte ich selten das Gefühl, dass ich irgendeinen Platz hatte, wo ich einfach drauf los quatschen konnte und für das alles in meinem Schädel ernst genommen wurde. Bei mir kam dann aber eben noch die Dysregulation, das ADHS mit oben drauf und ich erinnere mich an zwei Jahre – ich war zwischen 10 und 12 – die ich am Liebsten für immer vergessen würde, weil sie sich so giftig anfühlten. Alles in mir spielte verrückt und ich hatte mit den ersten wirklich dunklen Tagen zu kämpfen, Schlulschluss zu haben war für mich eine massive Erleichterung und eigentlich wünschte ich mir sonnige Tage mit guten Freundinnen, aber für meine Klasse war ich zu komisch, als dass ich sinnvolle Freundschaften hätte knüpfen können. Und da ich ja ein Teenager-Mädchen war, konnte ich davon ausgehen, abgewunken zu werden. Ab hier bekam ich wahrscheinlich den Stempel „zu empfindlich“ – denn die anderen Mädchen waren ja noch irgendwie vernünftig, zwar knallten bei ihnen auch die Türen, aber nicht jeden Tag und selbst meine Banknachbarin wollte ausreißen, aber nicht fast jede Woche. Dass ich langsam eine psychische Erkrankung entwickelte, stand gar nicht zur Debatte und obwohl ich regelmäßig zu Therapien geschleppt wurde und selbst Vermutungen äußerte, dass da irgendwas ist, hielt man sich lieber daran, dass ich einfach nur ein wenig stur war und gerne überreagierte. Eine Erkrankung war in den Augen der Autoritäten, die mich umgaben keine Option, denn mir war ja nie etwas wirklich Schlimmes passiert, ich lebte in einem intakten Elternhaus und eine Diagnose würde mir ja nur Zugeständnisse machen und meine Bequemlichkeit fördern – denn ich hatte ja schon oft genug bewiesen, wie faul ich angeblich war. Selbst meine Kunsttherapeutin äußerte einmal, dass ich ja sehr viel Angst vor Anstrengung hätte. Sie gestanden mir alles zu, nur nicht, dass ich selbst nicht viel dafür konnte wie ich funktionierte.

Mit der Teenager-Zeit war dieser Druck und diese Hilflosigkeit aber noch nicht vorbei, denn jetzt kam die Uni – und auch hier merkte ich: Ich strampelte in der Luft. Ich hatte Phasen, da wollte ich mich an das Bild der ordentlichen und organisierten Lisa anpassen, die alles im Griff hatte, aber ich schaffte es nicht. Ich wollte weniger auffallen, ich schaffte es nicht. Ich war impulsiv, ich war laut, ich wollte Spaß haben, ich wollte reden und Menschen kennen lernen, aber das war irgendwann „zu viel“. Während meine männlichen Kommilitonen quasi dafür gemocht wurden, dass sie lieber feiern gingen, wurde ich dafür sehr kritisch beäugt. Denn ich war ja eine Frau und zudem war das ja auch irgendwie gefährlich so wie ich unterwegs zu sein – impulsive Frauen können nicht auf sich aufpassen, impulsive Männer schon, merkt ihr was?

 

Wenn ich zurückblicke – nein, wenn ich mir das alles im Gesamten ansehe, also auch die Gegenwart – ist meine Neurodivergenz und meine Depression in erster Linie nicht das Problem – es ist meine weibliche Neurodivergenz und meine weibliche Depression, die mich nicht zur Frau machen, die man gerne hätte. Alles was sie an Männern schon ungern sehen und verstehen, wollen sie bei Frauen schon doppelt und dreifach nicht. Denn für sie gelten andere Regeln und andere Erwartungen, koste es was es wolle.

Ich möchte hier nicht sagen, dass Männer keinen Schwierigkeiten ausgesetzt sind, denn das sind sie. Aber ihre „Fehler“, ihre Spleens, ihr unzuverlässig sein, das alles wird mehr hingenommen und eher akzeptiert. Diese Luft zum Atmen fehlte mir – und sie fehlt mir heute noch; denn ich bin Frau, nicht Mensch.

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Eine Aneinanderreihung problematischer Narrative

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Stray - ein Review