Mein Leben ohne Diagnose, mein Leben als Problemkind.

In diesem Sommer werde ich 26 und in diesem Sommer wird meine ADHS-Diagnose 2 Jahre alt. Ja, das ist wirklich gar nicht so lange her. Vor allem nicht, wenn man bedenkt, dass ich schon in meiner Kindheit Symptome hatte: Ich war verträumt, bin im Unterricht einfach aufgestanden, manchmal ohne wirklich darüber nachzudenken, war immer eine der Langsamsten und war grundsätzlich ein Problemkind.

Dafür war ich allerdings auch immer mit einer Sensibilität ausgestattet, die mit dieser negativen Resonanz darauf nicht umgehen konnte. Ich habe ziemlich lange nach einem Platz gesucht, nach einem festen Platz in einem Freundeskreis, einem Platz, an dem ich selbstverständlich wäre. Stattdessen habe ich mich immer gefragt, was denn mit mir nicht stimme und ob ich einen komischen Knoten in meinem Kopf habe. Apropos Kopf: Der war dazu noch mit einer Fantasie-Welt ausgestattet, in der ich – Überraschung – ein ganz normales Mädchen war. Ohne „die Komische“ zu sein.

„Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.“, lautet ein Sprichwort. Bei einer ADHS heißt es aber: Was ich nicht weiß, macht mich krank.

Die möglichenFolgen einer unbehandelten ADHS habe ich am eigenen Leib zu spüren bekommen:mit 16 wurde mir meine erste depressive Episode diagnostiziert, wegen einerzweiten war ich sieben Jahre später in einer Tagesklinik. Noch heute habe ichProbleme mich selbst als selbstverständlich zu nehmen, mich selbst alsberechtigten Part, in egal welchem Umfeld, zu sehen. Man merkt es mir meistensnicht an: Aber in mir schlummert eine riesengroße Scham über mich selbst.

Was man mirallerdings anmerkt ist meine Wut. Mich bringen Kleinigkeiten in Bruchteilen vonSekunden auf die höchste Palme der Welt, aber richtig rauslassen kann ich sieauch nicht.

In einerGesellschaft, in der Gefühlsausbrüche höchstens in Extremsituationen akzeptiertwerden, ist das sehr von Nachteil. Und nicht nur das – irgendwann beschleichtdich langsam, aber sicher das Gefühl: Mit mir stimmt irgendwas nicht!

Mit AdhslerInnenstimmt natürlich alles und wenn man darum weiß, verlieren die Wutanfälle, die„komischen“ Verhaltensweisen ihren Schrecken, denn als AdhslerIn geht mansymptombedingt mit vielen Dingen etwas anders um. Manche mögen das als eine ArtEntschuldigung sehen. Eine Entschuldigung für Vergesslichkeit, eineEntschuldigung für die Verplantheit, eine Entschuldigung, um sich nichtanstrengen zu müssen. Aber eigentlich, eigentlich strengen sich AdhslerInnensehr an.

Ich weiß nicht,wie oft mir vorgeworfen wurde, wie stinkend faul [sic!] ich denn sei, oder dassich mich einfach nicht anstrengen will. Ich wurde von LehrerInnen bloßgestellt undmeine Eltern dachten, ich bin ein Wildfang, der sich einfach nicht anpassenwill. Ein bisschen stimmte das auch. Allerdings wollte auch ich einfachstressfrei meinen Weg gehen und mir ein Leben gestalten, mit dem ich auchglücklich war. Aber irgendwie hat es nicht ganz so funktioniert. Nicht nur,dass meine (sowieso unrealistischen) Vorstellungen nicht erfüllt wurden, nein,ich hatte nie das Gefühl, dass irgendetwas konstant funktioniert hat. Der Platzim Leben, den ich so dringend gebraucht hätte, war nonexistent. Nicht mal dieDinge, die mir eigentlich Spaß gemacht haben, habe ich wirklich durchgezogen.Das passiert mir heute noch. Ihr wisst gar nicht, wie viele Bücher und Filme,die mich extrem interessieren, ich noch nicht gelesen oder gesehen habe. Sie wurdenunter Prokrastination der Prokrastination und flüchtig gesehenen YouTube-Videosbegraben.

Paradoxerweise linderten sich manche Symptome, als ich dann meinen Alltag ganz alleine meistern musste, als ich selbst entscheiden konnte, wann und wie ich was mache. Ich wollte mein immer mal wieder vorhandenes Chaos zwar immer noch nicht akzeptieren, aber viele Dinge gingen einfach besser, ohne mahnende Stimme meiner Eltern; oder ohne LehrerInnen, die sehr im Sinne einer katholischen Mädchenschule an mir rumerziehen wollten. Einiges blieb aber.

Man sagt überAdhslerInnen, sie könnten sehr resilient sein. Es macht schon Sinn, wenn man sooft scheitert, dass man sich daran gewöhnt und einfach lernt, es zu vergessen –oder zu verdrängen. Doch meine Begeisterungsfähigkeit und mein Durst nachNeuem, nach einem ganz normalen Leben, haben mir eine Krücke gegeben, die ichnach und nach immer mehr realisiere. Eine sehr sehr wertvolle Krücke.

Als ich meinAbi gemacht habe – Schnitt 3,5 – habe ich erstmal ein Jahr in Münster studiert.Weil es nicht das war, was ich eigentlich machen wollte, habe ich mich auf dieSuche nach Universitäten gemacht, die Medienwissenschaften ohne NC anboten. Ichbin in eine neue Stadt gezogen und dachte mir: Jetzt geht es los!

Dann ging es los und ich hatte dieselben Probleme wieder. Außerdem schlugen hinzu noch die Wunden, die eine dreijährige toxische Beziehung, die ich kurz vor dem Umzug beendet hatte, mit sich gebracht hatten, auf brutalste Art auf mich ein. Ich begab mich wegen Depressionen in Behandlung. Davor recherchierte ich ein wenig – die Zeitspanne bis zu meinem Termin dauerte mir zu lange, ich wollte mehr über das herausfinden, was in mir vorging. Genau weiß ich nicht mehr, wie ich dazu gekommen bin, aber jede Liste mit AD(H)S-Symptomen passte wie die Faust aufs Auge. Klar sollte man seine Symptome nicht unbedingt googlen, aber wenn man schon ein ganzes Leben mit sich lebt, kennt man auch seine Probleme. Und meine Probleme stimmten mit AD(H)S-Problemen überein. Ich bat meine damalige Psychiaterin mir einen Termin zu machen, um das sicher abklären zu lassen – eineinhalb Jahre später hatte ich meine zwei Termine. (Den ersten verschlief ich, weil ich bei meinem Wecker nicht auf speichern geklickt hatte.) Ich habe viele Fragen beantwortet, Grundschulzeugnisse eingesammelt, mein Umfeld mit Fragebögen über mich genötigt. Es war schon anstrengend. Ich erinnere mich noch, dass die betreuende Psychologin damals meinte, dass meine Grundschulzeugnisse schon sehr aussagekräftig seien. Eine Sache, die ich sehr hart fand. Wieso hat man es dann nicht einfach da schon bemerkt?

Am Ende standdie Diagnose fest. Und ich bin immer noch sehr glücklich darüber. Sehr. In denletzten zwei Jahren habe ich viel mehr über mich gelernt, als die gesamtenJahre davor. In letzter Zeit beginne ich, mich selbst mehr und mehr zuakzeptieren, meine Eigenheiten hinzunehmen und Strategien zu entwickeln, wieich Dinge am Besten angehe. Ich fange nicht mehr an, alles hinzuschmeißen, wennetwas nicht perfekt funktioniert, ich tue mir selbst besser.

Durch mein ADHShabe ich Vieles gelernt. Aber dieses Lernen kam auch erst mit der Diagnose. Deshalbist die auch so wichtig. Es geht nicht darum, Menschen irgendeine Krankheit „einzureden“,was für ein Schwachsinn!, es geht darum, dass man sich selbst besser verstehenkann und es geht auch darum, die richtige Behandlung für sich zu finden.

In DorisRyffel-Rawaks „ADHS bei Frauen“ las ich viele Geschichten Betroffener. Manche warenbis in ein hohes Alter davon überzeugt, dass sie halt einfach nicht so fähigwaren. Das kann ein Leben zu einem unerträglichen Spießrutenlauf machen.

Ich frage mich,warum immer alle sagen, ADHS wird überdiagnostiziert. Ich habe nicht wirklicheine Ahnung, wie viele Diagnosen sich als falsch herausgestellt haben, aberTatsache ist, dass gerade Frauen gar keine oder viel zu späte Diagnosenerhalten – dieses Thema wird noch einen eigenen Blogpost bekommen – und einespäte Diagnose, gerade bei vorhandenem Leidensdruck, ist ein Problem. Auch beiphysischen Krankheiten ist das so.

Es geht nicht,dass Leute krank oder kränker werden, weil sie nicht abgeklärt werden – meist ausdem Grund, weil psychische Probleme und Erkrankungen immer noch unter einStigma fallen. Es geht nicht, dass nicht sichtbare Störungen oder Probleme alsErfindung abgetan werden. Ich habe ADHS und ich weiß wie es sich anfühlt.Vieles wäre anders gelaufen ohne.

Ich hatte keineDiagnose und hing ewig in der Luft; mit mir und meinem Selbstverständnis. Vielleichtwäre es auch mit Diagnose nicht perfekt gelaufen. Aber zumindest hätte dieses Gefühl,dass irgendwas nicht passt, einen Namen gehabt – und dann wäre es irgendwannverschwunden. Einige Jahre früher als jetzt.

MeineGeschichte ist unter anderem der Grund, warum ich diesen Blog ins Leben gerufenhabe. Ich bin nicht nur ADHS und ich werde hier nicht immer über ADHSschreiben. Aber es wird ein Thema. Und es muss ein Thema sein, denn sonstwerden die Geschichten wie die meinige, nicht weniger. Wir dürfen nicht mehr so„butthurt“ sein mit solchen Sachen. Es ist nichts Überdramatisches, mancheMenschen haben es und es gehört zu ihnen. Es ist einfach nur ADHS.

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Das "Irgendwie"-Semester.

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